Vom Risiko, nicht investiert zu sein

Weitsicht 2/2022 – Gedanken zum aktuellen Geschehen an den Märkten

Solide Renditen, die über den längsten Zeitraum ununterbrochen erwirtschaftet werden,
gewinnen – besonders in Zeiten von Chaos und Verwüstung – immer.

Morgan Housel

 

Volatilität wohin man blickt

Das erste Semester 2022 war geprägt von grossen Kursverlusten. Unabhängig davon, in welche Anlageklassen eine Investorin oder ein Investor ihr Geld angelegt hat: Sie oder er hat fast sicher Geld verloren. Das zeigt sich zunächst an der Performance der Aktienmärkte für den Zeitraum vom 31. Dezember 2021 bis zum 30. Juni 2022:

 

Quelle: Bloomberg, Zähringer Privatbank


Aber nicht nur. Auch wer in Obligationen investiert war, musste teilweise ebenfalls empfindliche Verluste hinnehmen. Je nach Laufzeit haben Obligationen rund 15% eingebüsst:


Quelle: Bloomberg, Zähringer Privatbank

 

Es überrascht denn auch nicht, dass selbst bei gemischten Depots (Aktien und Anleihen) teilweise Verluste im zwei­stelligen Prozentbereich auftraten. Darunter leiden nicht zuletzt unsere Pensionskassen, deren Reserven sich in den vergangenen Monaten vielfach in Luft aufgelöst haben.

Und selbst das Betongold blieb, zumin­dest wenn man die Kursentwicklung kotierter Immobilienfonds betrachtet, nicht von Korrekturen verschont.


Quelle: Bloomberg, Zähringer Privatbank

 

Verluste – egal wohin man blickt. Die Märkte sind weiterhin von sehr grossen Schwankungen geprägt. Das betrifft die Obligationen und Zinsen genauso, wie die Aktienmärkte, die Rohstoffe oder die Preise für Strom und Gas, die innerhalb eines Tages teilweise im zweistelligen Prozentbereich ausschlagen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es sich überhaupt lohnt, in einem solchen Marktumfeld investiert zu sein. Wir meinen: Ja. Es gibt gerade in einem solchen Marktumfeld eine Reihe von guten Gründen, die dafür sprechen, an der gewählten Anlagestrategie festzuhalten, denn auf lange Sicht besteht das grösste Risiko darin, nicht investiert zu sein.

Langfristige Entwicklung einzelner Anlageklassen

Aus der Sicht der Investorin oder des Investors ist es entscheidend, ob und über welchen Zeitraum mit einer Anlage «Geld verdient werden kann». Dabei muss sie oder er – obwohl das in den letzten Jahren kein grosses Thema war – auch die Inflation berücksichtigen. Empirische Studien zeigen, dass in der Vergangenheit auf lange Sicht alle Anlageklassen nach Abzug der Geldent­wertung Gewinne abwarfen. Für die USA liegen detaillierte Zahlen vor (Jeremy J. Siegel, Stocks for the Long Run, 2014):

  • Obligationen: Die Investition von USD 1 in Obligationen im Jahr 1802 vervielfachte sich bis ins Jahr 2012 auf USD 1‘1778.

  • Aktien: Diese Anlageklasse schnitt deutlich besser ab. Im gleichen Zeit­raum wurden aus USD 1, die in Aktien angelegt wurden, USD 704‘997.

  • Gold: Die Anlage von USD 1 im Jahre 1802 in Gold resultierte in einer Wertvermehrung auf USD 4.52. Damit wurde das Gold seinem Ruf als Stabilisator der Performance gerecht.

  • Immobilien: Für Immobilien liegen keine Zahlen vor, doch haben sich diese in der Vergangenheit ebenfalls als Anlageklasse erwiesen, die neben Mieterträgen (teilweise grosse) Wertsteigerungen erzielt hat. Darin nicht eingeschlossen ist der tägliche Nutzen, den die Freude am selbstbe­wohnten Eigenheim mit sich bringt.
Diese Zahlen zeigen eindrücklich, dass sich die Anlage der Vermögenswerte auf lange Sicht in jedem Falle ausgezahlt hat. Hätte eine Investorin oder ein Investor seine Ersparnisse stattdessen auf einem Bankkonto deponiert, so hätten sie im gleichen Zeitraum eine Geldentwertung von 95% hinnehmen müssen (aus USD 1 wurden noch USD 0.05).

Auch zeigt die Übersicht eindrücklich, dass Realwerte in der Vergangenheit gegenüber Nominalwerten eine deutliche Mehrperformance erzielt haben. Mit anderen Worten: Die Investorin oder der Investor wurde für das grössere Risiko, das sie mit der Anlage in Aktien oder Immobilien eingingen, auch grosszügig entschädigt.

Welches sind die treibenden Faktoren hinter dieser Entwicklung?


Wirtschaftliche Leistung als Motor
Grundsätzlich gilt für alle Anlageklassen: Die wirtschaftliche Leistung ist deren Motor und bestimmt deren Kurse. Ohne Wirtschaftswachstum können langfristig keine Gewinne erzielt werden. Das gilt für Obligationen genauso wie für Aktien.

Unternehmen sind nur dann in der Lage, Zinsen zu bezahlen und Anleihen zurück­zubezahlen, wenn sie Erträge erwirtschaf­ten. Obligationen weisen aber im Ver­gleich zu Aktien geringere Risiken auf. Daher sind auf lange Sicht auch deren Erträge tiefer. Ein Unternehmen kann zumindest auf kürzere Sicht Zinsen bezahlen und Anleihen zurückzahlen, auch wenn es keine Gewinne erzielt. Ab­gesehen von Ausnahmen, wie wir sie im ersten Semester 2022 erlebt haben, in dem Obligationen je nach Laufzeit und Zinssatz teilweise grosse Verluste erlitten, erweisen sich Obligationen dafür im Vergleich zu Aktien als weniger schwan­kungsanfällig. Wichtige kursbestim­mende Faktoren sind das allgemeine Zinsniveau und das Ausfallrisiko einer einzelnen Emittentin.

Klar grösseren Schwankungen unterwor­fen ist die Kursentwicklung von Aktien. Unternehmen können nur dann Dividen­den ausschütten oder Aktien zurück­kaufen, wenn sie Gewinne erwirtschaften. Damit hängt die Entwicklung des Aktien­kurses viel stärker vom allgemeinen Wirtschaftsgang ab. Unternehmen werden in einer Boom-Phase grössere Gewinne erzielen als in einer Rezession. Entsprechend reflektieren die Kurse von Aktien die wirtschaftliche Entwicklung viel stärker als Anleihen. Kommt es zu einem Zusammenbruch eines Unterneh­mens – man denke nur zurück an die Swissair-Gruppe – so gehen die Aktio­näre leer aus. Aber auf lange Sicht gilt das Gesetz der kreativen Zerstörung (Joseph Schumpeter). Dieses besagt, dass jede wirtschaftliche Entwicklung darauf aufbaut, dass mittels einer Rekombina­tion von Produktionsfaktoren, welche sich am Markt durchsetzt, alte Strukturen verdrängt und schliesslich zerstört werden. Diese schöpferische Zerstörung ist notwendig, damit eine ökonomische Neuordnung stattfinden kann. Es handelt sich bei dieser Zerstörung nicht etwa um einen Systemfehler, sondern sie ermög­licht erst den wirtschaftlichen Fortschritt. Das bedeutet, dass immer wieder Unternehmen ausscheiden und in Konkurs gehen (müssen). Das ist Teil der kreativen Zerstörung. Der Siegeszug des Smartphone ist ein eindrückliches Bei­spiel der schöpferischen Zerstörung. Zeugen dieses Prozesses werden wir gegenwärtig auch im Bereich der Auto­mobilherstellung, der Energiegewinnung- und -speicherung oder der Bauindustrie, in der ökologisch nachhaltigere Materialien herkömmliche Baustoffe ablösen. Aus Sicht der Investorin bzw. des Investors hat dies aber auch zur Folge, dass es immer wieder Aktien geben wird, mit denen man einen Totalverlust erleidet.

Bereits die einleitenden Überlegungen haben gezeigt, dass daraus keineswegs der Schluss gezogen werden darf, dass Anlagen in Aktien generell zu riskant sind und Obligationen deshalb vorzu­ziehen sind. Je nach der finanziellen Situation und dem Anlegehorizont der Anlegerin oder des Anlegers mag das im Einzelfall zutreffen. Auch kann deren Risikotoleranz eine solche Wahl rechtfer­tigen. Dennoch sind wir überzeugt, dass ein genereller Verzicht auf Aktien langfristig keinen Sinn macht. Will die Investorin oder der Investor an der langfristigen wirtschaftlichen Ent­wicklung partizipieren, so führt kein Weg an Aktienanlagen vorbei. Diese Anlage­klasse ermöglicht es ihnen, an der langfristigen der Schaffung des wirt­schaftlichen Mehrwertes zu partizipieren. Für das damit verbundene Risiko werden sie mit der Risikoprämie entschädigt. Addiert man diese zum langfristigen Wirtschaftswachstum hinzu, so ergibt sich daraus ungefähr die langfristige durchschnittliche Rendite von ca. 6.6% pro Jahr (Quelle: Jeremy J. Siegel, Stocks for the Long Run, 2014).

In der kurzen Frist verläuft die Kursent­wicklung allerdings alles andere als ge­radlinig: Kursbestimmende Faktoren sind u.a. die Fähigkeit, Gewinne zu erwirt­schaften und Mehrwert für Aktionäre zu schaffen, das allgemeine Zinsniveau, welches alternative Anlagen attraktiver erscheinen lässt, oder die (zu) hohe oder tiefe Bewertung des Aktienmarktes selber. All diese Faktoren führen zu (grösseren) Schwankungen des Marktes. Auch das Überschiessen in die eine oder andere Richtung gehört dazu.


Geduld lohnt sich: Der Zinseszinseffekt
Die kurze Sicht darf deshalb den Blick auf die langfristige Entwicklung nicht verstellen. Nur wer investiert bleibt, wird langfristig an der dargestellten Ent­wicklung partizipieren. Ist der Investor bereit, die Kursschwankungen zu tragen, hat er die Möglichkeit, vom Zinseszins­effekt zu profitieren:

  • Einerseits kann er die Dividenden, die er erhält, reinvestieren.

  • Andererseits sind erfolgreiche Unter­nehmen in der Lage, die zurückbe­haltenen Gewinne einer produktiven Verwendung zuzuführen und damit im Idealfall eine nachhaltige Steigerung des Unternehmenswertes zu schaffen.

Kaum ein Beispiel illustriert diesen Zinseszinseffekt eindrücklicher, als dasjenige von Warren Buffet (Quelle: Morgan Housel, The Psychology of Money, 2020): Sein Vermögen im Jahre 2020 belief sich auf ca. USD 84.5 Mrd. Davon sparte er USD 84.2 Mrd. (also ca. 99%) erst nach seinem 50. Geburtstag an.

Geduld – und nicht ein stetes Hin und Her (Auf- und Abbau bzw. Umschichtung des Aktienportfolios) – ist die zentrale Voraussetzung für den langfristigen An­lageerfolg.

 

Das Beispiel Schweiz: 35 Jahre Swiss Performance Index
Die vorstehenden Überlegungen gelten nicht nur für Anleger wie Warren Buffet oder für Anlagen in US-Aktien. Daher werfen wir zum Schluss einen Blick auf die langfristige Entwicklung in der Schweiz:

Vor etwas mehr als 35 Jahren, nämlich am 1. Juni 1987, wurde der Swiss Per­formance Index (SPI) lanciert. Seither hat er sich zu einem wichtigen Gradmesser für die Entwicklung des Schweizer Aktienmarktes entwickelt. Lanciert wur­de der SPI mit einem Indexstand von 1‘000 Punkten. Am 1. Juni 2022, d.h. an seinem 35. Geburtstag, notierte der SPI bei fast 15‘000 Punkten. Wenig über­raschend war diese Entwicklung alles andere als geradlinig. Beispielhaft seien erwähnt:

  • Kurz nach seiner Lancierung im Jahre 1987 kam es zu einem grossen Crash (Oktober 1987). Der SPI sank erst ein-mal deutlich unter die Marke von 1‘000 Punkten.
  • Die Internet-Blase (dot-com bubble) platzte kurz nach der Jahrtausend­wende. Dem Zusammenbruch der Technologieaktien konnte sich auch der SMI nicht entziehen.

  • Auch die Finanzkrise in den Jahren 2008/2009 und die darauf folgende grosse Rezession prägten den SPI.
  • Anfangs 2020 erlebte der SPI grosse Verluste als Folge des Corona-Virus und des damit verbundenen plötz­lichen Stillstands eines grossen Teils der wirtschaftlichen Aktivität.

Das sind nur einige Beispiele für Phasen mit deutlich negativen Kursentwick­lungen. Es gibt viele mehr. Insgesamt hat der SPI neun Phasen mit Kursrückgängen von mehr als 15% erlebt. In der Zeit­periode von 2000 bis 2003 betrug der maximale Verlust 54.9%. In den Jahren 2007 bis 2009 kam es zu einem maxi­malen Kursrückgang von 53.2%. Andere Rückschläge fielen nicht ganz so heftig aus. Zu seinem 35. Geburtstag lag der SPI trotzdem bei fast 15‘000 Punkten. Das entspricht einer durchschnittlichen Performance von 8.1% pro Jahr (Quelle: The Market).

Beherzigt eine Investorin oder ein Investor die vorstehenden Überlegungen, so kommt sie oder er lang­fristig nicht an einem gut diversifizierten Aktienportfolio vorbei. Ein gewisser home bias, d.h. ein Übergewicht in Schweizer Aktien, ist dabei für in Schweizer Franken rechnende Investoren nicht zwingend ein Nachteil.                        

31.8.2022/TH

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